24.4.06

"Politik und Evangelium" Idea-Interview nach Wiederwahl in den Grossrat April 06

Was haben Sie als Pfarrer im Berner Rathaus verloren?
Gesellschaftliches Engagement gehört in meinem Reich Gottes Verständnis zum christlichen Grundauftrag. Egal wo wir beruflich hingestellt sind, sollen wir die Werte des Reiches Gottes sichtbar machen. Und weil ich offensichtlich auch mit entsprechenden Fähigkeiten ausgestattet wurde, hat sich für mich diese Türe in die Politik geöffnet. Ich habe dies nicht aktiv gesucht, aber heute freue ich mich, dass ich nebst meinen Aufgaben im kirchlichen Bereich dieses Standbein in der säkularen Welt habe.

Wo finden Sie die biblische Legitimation für Ihr Grossratsmandat?
Alle meine grossen Helden des Alten Testaments waren fantastische Politiker. Schauen sie sich mal einen Mose oder einen Josua an! Oder David und Salomon. Die hatten unglaubliche politische Herausforderungen zu lösen, und der eine konnte anscheinend nicht mal gut reden... Es braucht also auch für die Politik keine perfekten Menschen.

Sollten Kirche und Staat nicht konsequenter getrennt sein?
Mir wäre das tatsächlich lieb, und ich denke, dass die Entwicklung in den kommenden Jahren auch in diese Richtung gehen wird. Andererseits hat die offizielle Landeskirche heute immer noch einen positiven und vielleicht auch stabilisierenden Einfluss gerade in unserem Kanton. Da sehe ich keinen Grund, diesen aktiv zu bekämpfen oder einzuschränken.

Wie bereitet sich der Seelsorger auf eine Grossratssitzung vor?
Wohl genau gleich wie andere auch. Man sortiert mal die kiloweisen Papiere, schaut was einem besonders betrifft oder interessiert, und versucht sich in der vorhandenen knappen Zeit damit auseinander zu setzen. Im Moment fühle ich mich jedes Mal vor der Session noch ziemlich überwältigt von der Vielfalt der Themen, und leide auch daran, dass man sich mit Vielem gar nicht wirklich solid auseinandersetzen kann. Da ist man dann eben auf das gute Team und die Ergänzung angewiesen.

Wofür beten Sie vor den Sitzungen?
Einerseits um Führung und Weisheit bezüglich der Themen, aber wichtig ist mir immer auch das Gebet um gute Begegnungen über die Parteigrenzen hinweg. Denn ich will immer bewusst auch offen sein für persönliche Gespräche und menschliche Nöte.

Wird in der EVP-Fraktion gebetet?
Natürlich. Wir beginnen jede Sitzung mit einer kurzen Andacht und Gebet. Und zu Sessionsbeginn kommen jeweils rund 20 Politiker verschiedenster Parteien zu einer Kurzandacht in die Rathauskapelle.

Ein Gemeindeleiter als Parteipolitiker: Wie reagieren Ihre Gemeindeleute darauf?
Die Gemeinde fiebert natürlich jeweils mit und freut sich über meinen Wahlerfolg. Ich vermute, dass das Beispiel der Gemeindeleitung wirklich auch weitere Leute dazu ermutigt, sich politisch zu engagieren. Sei das in Schulkommissionen, Parteivorständen etc. Es gibt bei uns intern natürlich immer wieder auch politische Diskussionen, und gerade die Möglichkeit der elektronischen Wahlhilfe von „Smartvote“ hat selbst bei den Mitarbeitern im Gemeindebüro das breite Spektrum politischer Ansichten aufgezeigt. Als Leitungsteam haben wir unsere Präferenzen, aber wir ermutigen auch Leute die bei andern Parteien politisieren.

Sie sitzen seit 1 Jahr im Grossen Rat. Was haben Sie in dieser Zeit bewirkt?
Mir wurde erst mal eine Einarbeitungszeit bis zu den Wahlen zugestanden. Aber ich konnte sicher für unser Fraktionsteam schon in einigen Punkten eine Ergänzung sein, und mich mit meinen Kompetenzen einbringen. In Zukunft möchte ich mich noch stärker mit Gesundheits- und Familienpolitik beschäftigen.
In der breiteren Öffentlichkeit konnte ich in Zusammenhang mit einer sogenannten Aufklärungsbroschüre zum Thema Homosexualität etwas bewegen bzw. verhindern, und in dieser Frage von Aufklärung und Schule möchte ich auch im Grossen Rat noch dran bleiben.

Wie hilft Ihnen das Evangelium in der Politik?
Genau so wie mir das Evangelium auch im Beruf als Arzt oder in der Gemeindearbeit Orientierung gab, prägt meine Beziehung zu Jesus nun auch meine politische Arbeit, meine Begegnungen, meine Konflikte etc.

Ihr letzter grosser politischer Gewissenskonflikt?
Die EVP unterstützt den Ausbau von Tagesschulen, Kinderkrippen, Mutterschaftsversicherung etc. Ich trage das grundsätzlich mit, aber mich stört es sehr, dass dabei nur an die erwerbstätigen Mütter gedacht wird. Wir müssten Familien mit Kindern so unterstützen, dass Eltern echte Wahlmöglichkeiten haben zwischen Erwerbstätigkeit mit Fremdbetreuung oder ob sie die Erziehungsarbeit voll selber leisten wollen.

Worunter leiden Sie in der Politik am meisten?
Dass man zu vielen Themen Stellung nehmen sollte, von denen man eigentlich kaum eine Ahnung hat. Ich brauche da noch mehr „Mut zur Lücke“.

Wann wird ein Politiker schuldig?
Man hat immer die Wahl zwischen Ehrlichkeit und Echtheit oder Fassade. Politiker stehen unter Erfolgsdruck und erwecken oft den Eindruck, sie hätten die Sache im Griff. Aber meist wissen sie eigentlich viel zu wenig über die Auswirkungen ihrer Entscheidungen. Unehrlichkeit jeder Art ist Sünde...

EVP und EDU haben stark zugelegt. Wie kommt es dazu?
Die gesellschaftliche Verantwortung der Christen wird immer mehr zum Thema und ist in Kreisen der Allianz wie auch in den VFG-Gemeinden weitgehend unbestritten. Dies führt zu einer Sensibilisierung und zu einer vermehrten Bereitschaft, die gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten auch zu nutzen. Zudem kann die christliche Szene besser als die Durchschnittsbevölkerung mobilisiert werden.

12.4.2006 / Andrea Vonlanthen